26.12.18

RAINER MARIA RILKE: KINDHEIT



RAINER MARIA RILKE


KINDHEIT

Es wäre gut viel nachzudenken, um
von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen—und warum?

Noch mahnt es uns—: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll

wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.

Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden
in jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt.

23.12.18

MARIE LUISE KASCHNITZ: AUFERSTEHUNG



MARIE LUISE KASCHNITZ


AUFERSTEHUNG

Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.

Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.

16.12.18

REINER KUNZE: BRIEFTRÄGER SEIN




REINER KUNZE


BRIEFTRÄGER SEIN

Tag für tag
erwartet werden, eine
hoffnung sein, das unüberbrückbare
überbrücken mit
jedem schritt

Briefträger sein

Tag für tag
bis vor die türen der menschen gehen, nicht
eintreten dürfen

15.12.18

GEORG TRAKL: GEBURT



GEORG TRAKL


GEBURT

Gebirge: Schwarze, Schweigen und Schnee.
Rot vom Wald niedersteigt die Jagd;
0, die moosigen Blicke des Wilds.

Stille der Mutter; unter schwarzen Tannen
Offnen sich die schlafenden Hande,
Wenn verfallen der kalte Mond erscheint.

0, die Geburt des Menschen. Nachtlich rauscht
Blaues Wasser im Felsengrund;
Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel,

Erwacht ein Bleiches in dumpfer Stube.
ZweiMonde
Erglanzen die Augen der steinernen Greisin.

Weh, der Gebarenden Schrei. Mit schwarzem Fliigel
Riihrt die Knabenschlafe die Nacht,
Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt.

19.9.18

PAUL CELAN: CHANSON EINER DAME IM SCHATTEN



PAUL CELAN


CHANSON EINER DAME IM SCHATTEN

Wenn die Schweigsame kommt und die Tulpen köpft :
Wer gewinnt ?
Wer verliert ?
Wer tritt an das Fenster ?
Wer nennt ihren Namen zuerst ?

Es ist einer, der trägt mein Haar.
Er trägts wie man Tote trägt auf den Händen.
Er trägts wie der Himmel mein Haar trug im Jahr, da ich liebte.
Er trägt es aus Eitelkeit so.

Der gewinnt.
Der verliert nicht.
Der tritt nicht ans Fenster.
Der nennt ihren Namen nicht.

Es ist einer, der hat meine Augen.
Er hat sie, seit Tore sich schliessen.
Er trägt sie am Finger wie Ringe.

Er trägt sie wie Scherben von Lust und Saphir :
er war schon mein Bruder im Herbst ;
er zählt schon die Tage und Nächte.

Der gewinnt.
Der verliert nicht.
Der tritt nicht ans Fenster.
Der nennt ihren Namen zuletzt.

Es ist einer, der hat, was ich sagte.
Er trägts unterm Arm wie ein Bündel.
Er trägts wie die Uhr ihre schlechteste Stunde.
Er trägt es von Schwelle zu Schwelle, er wirft es nicht fort.

Der gewinnt nicht.
Der verliert.
Der tritt an das Fenster.
Der nennt ihren Namen zuerst.

Der wird mit den Tulpen geköpft.