23.9.16

RAINER MARIA RILKE: LIEBESLIED



RAINER MARIA RILKE


LIEBESLIED

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied!

17.9.16

HERMANN HESSE: ZU SPÄT




HERMANN HESSE


ZU SPÄT

Altmodisch steht mit schmächtigen Pilastern
Wie sonst das Schloß. Auf violetten Astern
Irrt noch ein später Falter her und hin
Mit krankem Flügelschlagen,
Und welke Beete sagen,
Daß ich zu spät gekommen bin.

Und am Balkon in seidenen Gewändern,
Mit stolzen Augen in vertrübten Rändern,
Steht trüb und stolz die blasse Königin,
Und will die Hand erheben,
Und kann mir nicht vergeben,
Daß ich zu spät gekommen bin.

16.9.16

PAUL CELAN: REGENFLIEDER




PAUL CELAN 


REGENFLIEDER

Es regnet, Schwester: die Erinnerungen

des Himmels läutern ihre Bitterkeit.
Der Flieder, einsam vor dem Duft der
Zeit,
sucht triefend nach den beiden die
umschlungen
vom offnen Fenster in den Garten sahn.
Nun facht mein Ruf die Regenlichter an.
Mein Schatten wuchert höher als das
Gitter.
Und meine Seele ist der Wasserstrahl.
Gereut es dich. Du Dunkle, im Gewitter,
daß ich dir einst den fremden Flieder
stahl?

15.9.16

WOLFGANG BORCHERT: ABENDLIED




WOLFGANG BORCHERT


ABENDLIED

Warum, ach sag, warum
geht nun die Sonne fort?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da geht die Sonne fort.

Warum, ach sag, warum
wird unsere Stadt so still?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
weil sie dann schlafen will.

Warum, ach sag, warum
brennt die Laterne so?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da brennt sie lichterloh!

Warum, ach sag, warum
gehn manche Hand in Hand?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da geht man Hand in Hand.

Warum, ach sag, warum
ist unser Herz so klein?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da sind wir ganz allein.