30.6.09

BETTY PAOLI: UNSERE SPRACHE


BETTY PAOLI (1814-1894)


UNSERE SPRACHE


Deutsche Sprache! Zaubergarten
Du, mit Blumen aller Arten
Reich und wundersam bekränzt!
Schacht, in dessen dunkeln Gängen
Gold und Eisen sich vermengen
Und der Lichtkarfunkel glänzt!

Meer, aus dessen Wogenfülle
Ohne Schleier, ohne Hülle
Sich die reinste Schönheit hebt!
Luft aus klaren Aetherhöhen,
Die mit ihrem frischen Wehen
Wie des Morgens Hauch belebt!

Tief ist deine Macht begründet,
Einz'ges Band, das uns verbindet
Und so fest zusammenhält,
Daß von Deutschlands Ruhm und Leide
Jenseits der Atlantis Scheide
Deutsche Herzen noch geschwellt!

29.6.09

GERRIT ENGELKE: ALLES IN DIR


GERRIT ENGELKE (1890-1918)


ALLES IN DIR


In Dir, o Mensch, ist alles:
In Dir ist der Schlaf und das Wache:
In Dir ist die Zeit.
Und ohne Dich ist keine Zeit.
In Dir ist die Zeit
Und die Fülle der Zeit:
Der qualmende Dampfer,
Die rollende Bahn,
Der eiserne Lärm
Und das Schweigen des Domes.
Der Stein und der Mörtel:
Das Haus und die Stadt.
In Dir ist die Fülle
Des zeitlichen Werkes.
In Dir, o Mensch, ist alles:
Die mordende Hand
Und das Künstler-Gehirn, -
Das ruchlose, stinkende Wort
Und das schwellende, schwebende Lied.
Die Liebe um Liebe:
Die Liebe der männlichen Stärke
Zu weiblicher Weichheit.
Und trübe verzehrende Liebe
Der Gleichen zu Gleichem.
Ist Beides in Dir:
Der Gott und das Böse.
In Dir, o Mensch, ist Alles:
Das trinkende Ohr
Und der Antworten speiende Mund.
Der nehmende Mund
Und der scheidende Darm -
Der bohrende Keim
Und der schwellende Schoß:
Der aufsaugende Anfang,
Das ausbrechende Sein.
Ist Beides in Dir:
Der schäumende Anfang,
Das reifende Ende,
Das Ende,
Das wieder nur Anfang,
Ist Alles, o Alles in Dir!

KARL MARX: IN SEINEM SESSEL...


KARL MARX (1818-1883)


IN SEINEM SESSEL...


In seinem Sessel, behaglich dumm,
Sitzt schweigend das deutsche Publikum.
Braust der Sturm herüber, hinüber,
Wölkt sich der Himmel düster und trüber,
Zischen die Blitze schlängelnd hin,
Das rührt es nicht in seinem Sinn.
Doch wenn sich die Sonne hervorbeweget,
Die Lüfte säuseln, der Sturm sich leget,
Dann hebt's sich und macht ein Geschrei,
Und schreibt ein Buch: "der Lärm sei vorbei."
Fängt an darüber zu phantasieren,
Will dem Ding auf den Grundstoff spüren,
Glaubt, das sei doch nicht die rechte Art,
Der Himmel spaße auch ganz apart,
Müsse das All systematischer treiben,
Erst an dem Kopf, dann an den Füßen reiben,
Gebärd't sich nun gar, wie ein Kind,
Sucht nach Dingen, die vermodert sind,
Hätt' indessen die Gegenwart sollen erfassen,
Und Erd' und Himmel laufen lassen,
Gingen ja doch ihren gewöhnlichen Gang,
Und die Welle braust ruhig den Fels entlang.

KARL-JOHANNES VOGT: HOMO MECHANIKUS


KARL-JOHANNES VOGT (1919)


HOMO MECHANIKUS


Bekenne nie
Dass dich eine Blume entzückt
Ein Bach
Ein Vogel
Ein Mensch oder ein Wort
Die Weisheit des Lebens
Findest du mühelos
In den Graffitis
Der eisernen Pissoirs
In den dunstigen Städten
Und die Faszination des Lebens
Ist nicht im Gedicht
Sondern im mechanischen Prinzip
Und in der Erregung
Die aufwallt
Wenn der Held
Aber auch der Feigling stirbt
Im blutigen Mix
Aus Sex und Crime
Wie damals die Gladiatoren
In den römischen Arenen

22.6.09

CHRISTA REINIG: ROBINSON


CHRISTA REINIG (1926)


ROBINSON


Manchmal weint er wenn die worte
still in seiner kehle stehn
doch er lernt an seinem orte
schweigend mit sich umzugehn

und erfindet alte dinge
halb aus not und halb in spiel
splittert stein zur messerklinge
schnürt die axt an einen stiel

kratzt mit einer muschelkante
seinen namen in die wand
und der allzu oft genannte
wird ihm langsam unbekannt

17.6.09

FERDINAND VON SAAR: DAS SONETT


FERDINAND VON SAAR (1833-1906)


DAS SONETT


Ein Labyrinth mit holdverschlung'nen Gängen
Hat dem Gedanken still sich aufgeschlossen;
Er tritt hinein - und wird sogleich umflossen
Von Glanz und Duft und zauberischen Klängen.

Hier leuchten Blumen, die auf Wiesenhängen
Des Pflückers harren, sehnsuchtsvoll entsprossen,
Dort wollen Zweige, goldschwer übergossen,
Den Wandelnden auf schmalem Pfad bedrängen.

Der aber, wird so mancher Wunsch ihm rege,
Pflückt eine Frucht nur mit zufried'ner Miene-
Doch manche Blüthe, die er trifft am Wege.

Und nun - ob er gefangen auch erschiene
Schon in des Vierreims wechselndem Gehege-:
Geleitet ihn in's Freie die Terzine.

15.6.09

FRIEDRICH HÖLDERLIN: AN DIE PARZEN


FRIEDRICH HÖLDERLIN (1770-1843)


AN DIE PARZEN


Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
 Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
  Daß williger mein Herz, vom süßen
   Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
 Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
  Doch ist mir einst das Heilge, das am
   Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
 Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
  Mich nicht hinab geleitet; Einmal
   Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

10.6.09

STEFAN GEORGE: TRAUM UND TOD


STEFAN GEORGE (1868-1933)


TRAUM UND TOD


glanz und ruhm! so erwacht unsre welt
Heldengleich bannen wir berg und belt
Jung und gross schaut der geist ohne vogt
Auf die flur auf die flut die umwogt.

Da am weg bricht ein schein fliegt ein bild
Und der rauscht mit der qual schüttelt wild.
Der gebot weint und sinnt beugt sich gern
'Du mir heil du mir ruhm du mir stern'

Dann der traum höchster stolz steigt empor
Er bezwingt kühn den Gott der ihn kor...
Bis ein ruf weit hinab uns verstösst
Uns so klein vor dem tod so entblösst!

All dies stürmt reisst und schlägt blitzt und brennt
Eh für uns spät am nacht-firmament
Sich vereint schimmerdn still licht-kleinod:
Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod.

7.6.09

HEINRICH HEINE: DIE SCHLESISCHEN WEBER



HEINRICH HEINE (1797-1856)


DIE SCHLESISCHEN WEBER


Im düstern Auge keine Träne
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschiessen läßt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wir nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!